Lautlehre

[260] Lautlehre (Phonologie, Phonetik) zerf�llt in zwei Teile: die Lautphysiologie und die Lautgeschichte.

1. Die Lautphysiologie oder allgemeine L. ist die Lehre von der Erzeugung der Sprachlaute (Vokale und Konsonanten) in den menschlichen Stimmwerkzeugen, die erst in der neuesten Zeit durch die von der Erfindung des Kehlkopfspiegels unterst�tzten Forschungen der Physiologen (Br�cke, Helmholtz, Czermak, Merkel u.a.) und die daran sich kn�pfenden Untersuchungen der Sprachforscher (Ellis, Sweet, Sievers, Techmer, Bell, Storm, Lundell, Vi�tor u.a.) eine gl�nzende F�rderung und wissenschaftliche Vertiefung erfahren hat. Das menschliche Sprachorgan ist ein Instrument, das zum T�nen gebracht wird, indem eine aus den Lungen entsendete Lufts�ule durch den Kehlkopf hinausgetrieben wird, wo sie vermittelst der Schwingungen der im Kehlkopf befindlichen Stimmb�nder zum T�nen gebracht werden kann und dann beim Durchgang durch die Mundh�hle durch Zunge, Z�hne, Mundstellung etc. n�her individualisiert wird, �hnlich wie die Verschiedenheit des Ansatzrohres bei der Posaune, Trompete, Fl�te etc. dem Ton eine verschiedene F�rbung gibt. In der mehrlautigen Silbe findet eine Abstufung der Schallst�rke statt, bei der stets ein Laut dominiert. Er hei�t der Sonant (Selbstlauter) der Silbe, die andern Laute hei�en die Konsonanten (Mitlauter). Die F�higkeit, Sonant zu sein, haben nicht nur die Vokale, sondern auch Laute, die man in der vulg�ren Grammatik schlechthin zu den Konsonanten rechnet, wie n, m, l, r, z. B. spricht man gew�hnlich hatten, handelt als hattn, handlt aus, wobei n und l in bezug auf die Silbenbildung dieselbe Funktion haben wie z. B. e in hatte. Unter den Vokalen erscheinen namentlich i und u oft in der doppelten Funktion, und man nennt die konsonantischen i und u (j, w) auch Semivokales, Halbvokale. Nach dem akustischen Gesamtwert teilt man die Laute ein in Sonorlaute, die in Vokale (z. B. a, e), Nasale (z. B. n) und Liquid� (r und l) zerfallen, und in Ger�uschlaute, die in Verschlu�- oder Explosivlaute (wof�r weniger gut und jetzt veraltend auch Mutae), z. B. t, d, k, und Reibelaute oder Frikative oder Spiranten, z. B. f, f, zerfallen. Nach der Kehlkopfartikulation zerlegen sich die Laute in stimmhafte (t�nende), z. B. a, j, b, und stimmlose (tonlose), z. B. p, f. Jene entstehen, wenn die Stimmritze nicht weit ge�ffnet, sondern so weit verengert ist, da� die Stimmb�nder in rhythmische Schwingungen geraten. Ferner nach den Verengungsgraden der Mundh�hle: Laute mit Mund�ffnung, wobei entweder eine schallbildende Enge im Mund vorhanden ist, wie z. B. bei den Reibelauten, oder keine vorhanden ist, wie z. B. bei den sonantischen Vokalen oder bei h, und Laute mit Mundverschlu�, wobei entweder Mund- und Nasenraum nach au�en abgesperrt sind, wie bei t, d, oder nur der Mundraum, wie bei m, n. Anderseits nach der Beteiligung des Nasenraums kommen drei F�lle in Betracht: nur der Nasenraum steht offen, z. B. bei n, m; Nasen- und Mundraum stehen offen, was bei den nasalierten Lauten, z. B. franz�sisch ou, der Fall ist; nur der Mundraum wird ge�ffnet (reine Mundlaute), z. B. a, r, s. Nach der St�rke der Exspiration unterscheidet man Fortes (z. B. t, f) und Lenes (z. B. d, w), eine Einteilung, die ungef�hr mit der volkst�mlichen Einteilung in harte und weiche Konsonanten zusammenf�llt (jedoch nicht immer mit dem Unterschied von stimmlos und stimmhaft, da z. B. die Lenis d in Deutschland teils stimmhaft, teils stimmlos gesprochen wird); statt Verschlu�fortes (z. B. t) wird auch Tenues, statt Verschlu�lenes (z. B. d) auch Mediae gesagt; nach der Dauer der Exspiration hingegen Momentanlaute, z. B. t, d, und Dauerlaute (Continuae), z. B. a, r, f. Endlich ist noch die Einteilung nach der Artikulationsstelle hervorzuheben: 1) Labiale oder Lippenlaute, wie p, m, von denen die Labiodentalen, wie t, eine Abart sind; 2) Dentale oder [260] Zahnlaute, wie t, s, zu denen auch die Interdentalen, wie engl. th, neugriech. ϑ, geh�ren; 3) Linguale oder Zerebrale, bei denen der vordere Zungensaum nach dem Gaumendach auf- und zur�ckgebogen ist, wie zum Teil bei dem engl. r; 4) Gutturale, die in Palatale, z. B. k in »Kind«, und Velare, z. B. k in »Kunst«, zerfallen; bei jenen artikuliert der mittlere Teil des Zungenr�ckens gegen den harten Gaumen, bei diesen der hintere Teil des Zungenr�ckens gegen den weichen Gaumen; 5) Laterale, zu denen namentlich die l-Laute geh�ren, bei denen die Engen zwischen den Seitenr�ndern der Zunge und den Backenz�hnen liegen; die Dentalen, Lingualen und Gutturalen fa�t man unter dem Namen Linguopalatale zusammen. Im einzelnen ist noch folgendes hervorzuheben: die r- und l-Laute werden unter dem Namen Liquidae, wof�r minder gut Zitterlaute, zusammengefa�t (die Alten rechneten auch m und n zu den Liquidae), die s- und sch-Laute unter dem Namen Zischlaute oder Sibilanten zusammengefa�t; Verschlu�laute, denen sich ein h anf�gt, hei�en Aspiratae, es gibt Tenues aspiratae, wie kh, th (unsre deutschen k, t, p, z. B. in »Kater«, werden im gr��ten Teil von Deutschland nicht als reine Tenues, sondern als Tenues aspiratae gesprochen), und Mediae aspiratae, wie sanskrit gh, dh; Verschlu�laute dagegen, denen sich die gleichartige Spirans anf�gt, Affricatae, z. B. ts (z), pf. Die landl�ufigen Schriftarten (Alphabete) verm�gen niemals die feinern Schattierungen der Aussprache zum Ausdruck zu bringen, wie denn die geschriebene Sprache in lautlicher Beziehung stets nur als eine rohe Umri�zeichnung, nicht als eine Photographie der gesprochenen Sprache anzusehen ist. Die Wissenschaft braucht freilich genauere Bezeichnung, und sie hilft sich dadurch, da� sie den lateinischen Buchstaben diakritische Zeichen anh�ngt (z. B. ẹ f�r geschlossenes, dem i n�her liegendes e, ę f�r offenes, dem a n�her liegendes e, ḷ f�r das l in »handlt«, s. oben). Um alle in irgend einer Sprache vorkommenden Laute gleichm��ig zu bezeichnen, ist neuerdings teils von Sprachforschern, wie Lepsius, Sweet, Ellis, dem Prinzen L. Bonaparte u.a., und von Physiologen, wie Br�cke, ein »allgemeines linguistisches Alphabet« in Vorschlag gebracht worden, das aus den gew�hnlichen Buchstaben mit beigef�gten diakritischen Zeichen besteht. Doch gehen die verschiedenen Systeme, von denen z. B. dasjenige von Sweet 125, das von dem Prinzen Bonaparte sogar 390 verschiedene Laute bezeichnet, stark auseinander, und keins hat allgemeinere Anerkennung gefunden. Vgl. Br�cke, Grundz�ge der Physiologie und Systematik der Sprachlaute (2. Aufl., Wien 1876); Sievers, Grundz�ge der Phonetik (5. Aufl., das. 1901), und Phonetik in Pauls »Grundri� der germanischen Philologie«, Bd. 1, S. 282 ff. (2. Aufl., Stra�b. 1897); Techmer, Phonetik (Leipz. 1880, 2 Bde.); Trautmann, Die Sprachlaute (das. 1884); Vi�tor, Elemente der Phonetik und Orthoepic des Deutschen, Englischen und Franz�sischen (5. Aufl., Heilbr. 1904); Bremer, Deutsche Phonetik (Leipz. 1893).

II. Die Lautgeschichte oder historische L. geht darauf aus, die in der Geschichte der Sprachen hervortretenden Lautver�nderungen durch die Methode der historischen und vergleichenden Grammatik nachzuweisen und allgemeine Gesetze des Lautwandels. die sogen. Lautgesetze, aufzustellen. Namentlich in diesem Sinne wird die L. von allen Sprachforschern der Gegenwart sehr eifrig betrieben. Sprach- und Naturforschung reichen sich aber in der L. die Hand; w�hrend die immer noch etwas weiten Einteilungen der Lautphysiologen durch die pr�zisen Ergebnisse der Sprachwissenschaft gr��ere Bestimmtheit erlangen, erhalten anderseits die rein empirisch gefundenen Tatsachen der Lautgeschichte durch die physiologische L. ihre Erkl�rung. �brigens hat jede Sprache ihre besondern Lautgesetze, und in derselben Sprache wieder wirken in verschiedenen Zeiten verschiedene Gesetze. Der sogen. Wohllaut, von dem sich der Laie gew�hnlich die Lautver�nderungen abh�ngig denkt, spielt bei diesen tats�chlich nur eine verschwindend kleine Rolle. Der Wohllaut ist etwas durchaus Subjektives. Jeder h�lt das f�r wohlklingend, f�r euphonisch, womit er durch langj�hrige Gewohnheit vertraut ist, und der Hottentotte ist ebenso fest von dem Wohlklang seiner Schnalzlaute �berzeugt wie wir von der Sch�nheit unsrer Konsonanten, obschon der Ausl�nder deutsche W�rter, wie Holzpflock, Strolchs u. dgl., abscheulich und unaussprechbar findet. Vielmehr beruht die lautliche wie alle �brige Ver�nderlichkeit der Sprache auf denselben nicht kurz zu definierenden Bedingungen, auf Grund deren jede psychophysische T�tigkeit der Menschen und der V�lker fortw�hrendem Wandel unterworfen ist. S. Sprache und Sprachwissenschaft.

Quelle:
Meyers Gro�es Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 260-261.
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