Gervīnus

[668] Gervīnus, Georg Gottfried, Geschichtschreiber und Literarhistoriker, geb. 20. Mai 1805 in Darmstadt, gest. 18. M�rz 1871 in Heidelberg, trat 1819 in einer Buchhandlung zu Bonn, bald darauf in einem Tuchgesch�ft zu Darmstadt in die Lehre, widmete sich aber daneben mit Eifer �sthetischen und literargeschichtlichen Studien und neuern Sprachen, holte seit 1824 die vers�umte Schulbildung durch die flei�igsten Privatstudien nach, bezog 1825 die Universit�t Gie�en und ging Ostern 1826 nach Heidelberg, wo er unter Schlosser Geschichte studierte. Seit 1828 Lehrer zu Frankfurt a. M., habilitierte er sich 1830 mit einer Schrift �ber die »Geschichte der Angelsachsen« (Frankf. 1830) in Heidelberg, begab sich bald auf ein Jahr nach Italien und gab 1833 eine Sammlung kleiner historischer[668] Schriften heraus. 1835 erschien der erste Band seiner »Geschichte der deutschen Nationalliteratur« (Leipz. 1835–42, 5 Bde.); sp�tere Auflagen f�hren den ver�nderten Titel: »Geschichte der deutschen Dichtung«, die f�nfte ist teilweise nach seinem Tode von K. Bartsch herausgegeben (das. 1871–74). Zum ersten Male wurde darin die deutsche Literatur im Zusammenhang mit dem nationalen und politischen Leben und den gesamten Kulturzust�nden als ein Ausflu� des gesamten nationalen Lebens betrachtet. Auf Dahlmanns Empfehlung 1835 als Professor der Geschichte und Literatur nach G�ttingen berufen, gab er die »Grundz�ge der Historik« (Leipz. 1837, wieder abgedruckt in seiner Selbstbiographie) heraus, eine kleine, aber von ernstem Nachdenken zeugende Schrift. Seine Wirksamkeit in G�ttingen nahm ein schnelles Ende infolge des von ihm und sechs andern Professoren unterzeichneten Protestes gegen die vom K�nig Ernst August verf�gte Aufhebung der hann�verschen Verfassung. Vgl. G�ttingen. Im Dezember 1837 abgesetzt und des Landes verwiesen, lebte er teils in Darmstadt, teils in Italien und lie� sich 1844 in Heidelberg nieder, wo er als Honorarprofessor vielbesuchte Vorlesungen hielt. Seine Teilnahme an den �ffentlichen Dingen bet�tigte G. durch seine zwei Flugschriften �ber »Die Mission der Deutschkatholiken« (Heidelb. 1846) und »Die preu�ische Verfassung und das Patent vom 8. Februar« (Mannh. 1847), namentlich aber durch die 1847 in Verbindung mit H�usser, Mathy u. a. unternommene Gr�ndung der »Deutschen Zeitung«, die er ein Jahr lang redigierte und mit vielen trefflichen Leitartikeln ausstattete. Im Fr�hjahr 1848 von den Hansest�dten als Vertrauensmann zum Bundestag gesandt und von einem s�chsisch-preu�ischen Wahlbezirk in die Nationalversammlung gew�hlt, bet�tigte er sich wenig, trat vielmehr, mit dem Gang der Dinge wenig einverstanden, schon im August 1848 verstimmt aus dem Parlament aus und suchte Erholung in Italien. Anfang 1849 zur�ckgekehrt, schrieb er wieder eifrig Artikel f�r die »Deutsche Zeitung«, zog sich jedoch nach der Aufl�sung der Nationalversammlung von der Politik zur�ck und begann ein gr��eres Werk �ber ShakespeareShakespeare«, Leipz. 1849–52, 4 Bde.; 4. Aufl. mit Anmerkungen von Rudolf Gen�e, das. 1872, 2 Bde.). 1853 erschien als Vorl�ufer eines gr��ern Werkes die »Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts«, die wegen freisinniger �u�erungen verboten wurde, und 1854 lie� G. den ersten Band der »Geschichte des 19. Jahrhunderts« (Leipz. 1856–66, 8 Bde.) folgen, die, mit dem Wiener Kongre� beginnend, das Streben der V�lker nach Freiheit und Selbstherrschaft von dem Standpunkt des konstitutionellen Liberalismus schildert. Die Katastrophe des Jahres 1866, die das von G. ersehnte Ziel der politischen Einheit Deutschlands auf einem ganz andern Wege n�her r�ckte, namentlich die preu�ische Annexionspolitik, verstimmte ihn tief; er sah der weitern Entwickelung der Dinge nur mit Erbitterung gegen Preu�en zu und mit Groll �ber den Staatsmann, der sich so gar nicht an die Vorschriften politischer Doktrin�re hielt. Dieser Stimmung gab er selbst nach Beginn des Krieges gegen Frankreich Ausdruck in der vom November 1870 datierten Vorrede zum ersten Band einer neuen Auflage seiner »Geschichte der deutschen Dichtung«. Seine Ansichten �ber die politischen Dinge seit 1866 f�hrte er noch weiter aus in zwei nach seinem Tode von seiner Witwe (Viktoria, geborne Schelver, gest. 1893) herausgegebenen Aufs�tzen: »Denkschrift zum Frieden an das preu�ische K�nigshaus« und »Selbstkritik« (»Hinterlassene Schriften«, Wien 1872). Die letzte gr��ere Arbeit, die er ver�ffentlichte, war ein Buch �ber »H�ndel und Shakespeare. Zur �sthetik der Tonkunst« (Leipz. 1868), dem aus seinem Nachla� »H�ndels Oratorientexte, �bersetzt von G.« (das. 1873) folgten. Im »Nekrolog Friedrich Christoph Schlossers« (Leipz. 1861) setzte er seinem alten Lehrer ein Denkmal pers�nlicher Freundschaft und verbreitete sich �ber die Aufgaben des Geschichtschreibers. Vgl. Lehmann, G., Versuch einer Charakteristik (Hamb. 1871); Gosche, Gervinus (Leipz. 1871); »Briefwechsel zwischen Jakob und Wilh. Grimm, Dahlmann und G.« (hrsg. von Ippel, Berl. 1885–1886, 2 Bde.) und die nach dem Tode seiner Witwe ver�ffentlichte Selbstbiographie: »G. G. Gervinus' Leben. Von ihm selbst« (Leipz. 1893), die bis zum Jahre seiner Verm�hlung, 1836, reicht; D�rfel, G. als historischer Denker (Gotha 1904).

Quelle:
Meyers Gro�es Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 668-669.
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